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Wer geht schon nach Weissrussland… 1/3

Eine ungewöhnliche Reise, Teil 1.
Rumänienreisen sind ja schon eher neben der Spur – aber Weissrussland???? Und tja, nun war sie da, die Reise: Eine Woche Minsk, die Hauptstadt von Weissrussland. Die Bilder von diesem Land waren so verschwommen wie düster: “Letzte Diktatur Europas”, “Satellit Putins” – was wird mich erwarten?
Erst mal altbekanntes Theater, dann ein kurzes Wissens-Update, und schliesslich eine unerwartet luftige Stadt.

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Belarussische Liftknöpfe - unter dem "1" ist Schluss...
Belarussischer Lift – unter dem “1” ist Schluss…

Das Schlüsselerlebnis hatte ich gleich am ersten Morgen: Wir besteigen den Lift, um nach unten zu fahren. Automatisch wähle ich den Knopf, der unter der “1” liegt. Als wir aussteigen, sind wir aber nicht in der Lobby angekommen, sondern im Keller. Unsere Gastgeberin Irina lacht. “Bei uns in Belarus gibt es kein Erdgeschoss. Wir beginnen mit dem ersten Stock zu zählen.” – Ja, irgendwie nicht unlogisch.
Und diese andere Logik – nicht besser, nicht schlechter, einfach anders – wird mich die ganze Woche hindurch begleiten. Unsere Schweizer Sicht ist unsere Sicht. Auf Europa, auf die Geschichte, auf den Alltag.

Und es ist nichts falscher als vorauszusetzen, dass unsere Sicht auf die Zählung der Hausetagen die einzig richtige ist, und zu meinen, bei Fragen von Geschichte, Politik und Alltag sei das anders. Auch hier sind also Neugier und Zuhören Schlüsselqualifikation Nummer eins. Doch beginnen wir von vorne.

Ein Land, das man nur vom Hörensagen kennt – Mit meinem Vater und seiner Frau hatte ich die Gelegenheit, ihre weissrussischen Freunde zu besuchen. Eine Chance, auf die ich schon lange hoffte.

 

Altbekanntes Theater

Die Vorurteile bedient: Kommunistischer Baustil
Die Vorurteile bedient: Kommunistischer Baustil

Im Vorfeld den dreiseitigen Visumsantrag ausgefüllt – alles in kyrillisch geschrieben, ich konnte nur dank der Vorlage meines Vaters erahnen, was ich in welches Feld schreiben soll. Nur mit einer offiziellen Einladung kann man Weissrussland überhaupt besuchen, und es braucht einen offiziellen “Grund”. Bei unserem mitreisenden Sohn hiess das “Kennenlernen von weissrussischen Jugendlichen als Vorbereitung für ein Austauschjahr”, bei mir und meiner Frau “Abklärungen an der weissrussischen Technischen Universität Minsk für ein Post-Doc-Studium” – der Freund meines Vaters ist der Rektor ebendieser Universität. Ein Theater, das die meisten Länder bereits hinter sich gelassen hatten und das mir aus den dunkelsten Rumänien-Erlebnissen nur allzuvertraut war.

Kurz-Wiki Belarus

So stellt man sich das vor: unverständlich und unschön...
So stellt man sich das vor: unverständlich und unschön…

Mich kurz vor Abreise noch auf Wikipedia informiert. “Weissrussland” ist von “Belarus” eigentlich falsch übersetzt. “Bela” kommt vom Wort für “westlich”. Also werde ich ab hier nicht mehr “Weissrussland” schreiben, sondern “Belarus” – so reden die Belarussen auch am liebsten von sich selber. Der höchste Punkt des Landes liegt 347 Meter über dem Meeresspiegel, das Land mit seinen 9,5 Millionen Einwohnern rund fünf mal so gross wie die Schweiz, und über ein Viertel der Belarussen leben in Minsk.

Ein Land, so ungewohnt wie die Schrift.
Ein Land, so ungewohnt wie die Schrift.

Und ach ja: es gibt zwei grosse Fussball-Vereine: BATE Borissov spielte bereits drei mal Champions League (und hat auch schon die grossen Bayern geschlagen), Dinamo Minsk schickte sich gerade an, den FC Zürich in der Qualifikation zum Uefa-Cup zu beschämen. Und das Eishockey-Nationalteam spielt etwa auf Augenhöhe mit den Schweizern.

Zuletzt ist es mittlerweile schon fast vergessen, dass das Gebiet von Weisssrussland am stärksten vom Reaktor-Unglück in Tschernobyl betroffen war. Noch heute sind tausende von Frauen und Männer von den Folgen der verstrahlten Nahrung gesundheitlich betroffen.

Die Partnerschaft

Boris (Rektor der Belarussischen Technischen Universität) und mein Vater André Moosbrugger.
Boris Chrustaljew (Rektor der Belarussischen Technischen Universität Minsk) und mein Vater André Moosbrugger, mittlerweile Ehrendoktor der Uni Minsk.

Wie kam es eigentlich dazu, dass ich mit meinem Vater und seiner Frau nach Belarus reise?
In den Achtziger Jahren fragte die belarussische Regierung bei verschiedenen Schweizer Kantonen an,
ob eine Partnerschaft mit einer Schweizer Hochschule möglich sei.

Mein Vater arbeitete im Aargauer Kultur- und Erziehungsdepartement
und packte diese Gelegenheit quasi als Abenteuer am Schopf.
So kam es zu einem regen Austausch zwischen Aarau und Minsk,
und im Zuge dieser Partnerschaft entwickelte sich die Freundschaft
zwischen meinem Vater und dem Minsker Uni-Direktor.

Als ihm damals die Belarussen als “arbeitsam, zurückhaltend,
ihr Licht unter den Scheffel stellend, zuverlässig und bis zur Peinlichkeit pünktlich”
beschrieben worden waren, lachte er:
“Dann passen sie ja wunderbar zu den Aargauern!”

 

Minsk – luftige Millionenstadt

Luftig und modern - Typisch für Minsk.
Luftig und modern – Typisch für Minsk.

Als Gäste der Technischen Universität waren wir im Gästehaus für Gastdozenten untergebracht, und Vassily, der Chauffeur des Direktors, wich mit seinem Minibus eine Woche lang praktisch nicht von unserer Seite.
Von der ersten Stunde an war augenfällig, wie luftig, weitläufig, mit vielen grossen grünen Flächen die Stadt gebaut war. Dominant dabei der klassische kommunistische Baustil, der sich auch in ganz neuen Glas-Stahl-Konstruktionen fortsetzt.

Breite Strassen durchziehen die Stadt
Breite Strassen durchziehen die Stadt.

Bei den breiten Strassen gibt es praktisch keine Chance für den Verkehr für Staus. Der Grund dafür: im zweiten Weltkrieg wurde Minsk zu 95% von den Wehrmacht zerstört. Nur am Fluss Swislotsch sind eine Handvoll Häuser auf der Fläche von zwei Fussballfeldern älter als 70 Jahre. Alles andere musste nach dem Krieg neu gebaut werden.
So wurde Minsk von Beginn weg mit breiten, sechs- bis achtspurigen Boulevards (“Prospekten”), grossen Wohn- und Bürogebäuden, und eben dazwischen vielen grünen Flächen gebaut. Die klassischen kommunistischen Prunkbauten und riesigen Plätzen davor konnten so ebenfalls eindrucksvoll ins Stadtbild integriert werden.

Apotheken an jeder Ecke.
Apotheken an jeder Ecke.

Doch bei all dem wird man von der Architektur nie erdrückt, immer bleibt Luft zum Atmen. Und diese Abwesenheit von erdrückendem Beton, das spiegelt sich in der Atmosphäre, welche die Stadt atmet.

 

 

Insel der Tränen – Postkartenkulisse

Hochzeitsgesellschaften im Dutzendpack.
Hochzeitsgesellschaften im Dutzendpack.

Das Überbleibsel der Altstadt liegt an einer teichartigen Ausweitung der Swislotsch.
Am selben Ort gemahnt die “Insel der Tränen” an die belarussischen Gefallenen im Afghanistan-Krieg.
Und als ginge es darum, den ganzen Fächer der Gefühle aufzuspannen,
treffen sich dort jeweils Dutzende von Hochzeitspaaren,
um vor dieser stimmungsvollen Kulisse die Hochzeits-Fotos aufzunehmen.

01-04wiki2Im zweiten Teil: Freundschaft jenseits der Sprachgrenzen und was der dritte Toast bedeutet, der lange Schatten des Krieges, und wieso Belarus das Eldorado für Zirkusartisten ist.

Wer geht schon nach Weissrussland, Teil 3

Der Wechsel

…und dann wusste ich: Jetzt ist es an der Zeit. Zeit zum Loslassen. Zeit für eine neue Ära.

Vater-Sohn-Momente. Zum Beispiel bei der Meisterfeier 2008 in der Staine.
Vater-Sohn-Momente. Zum Beispiel bei der Meisterfeier 2008 in der Staine.

Seit elf Jahren begleitete ich meinen Sohn in die Muttenzer Kurve. Nun brauchte er meine Begleitung nicht mehr. Nach 35 Jahren MK wählte ich eine neue Wahlheimat im Joggeli.

 

Im Autoplay läuft nochmals der Film dieser elf Jahre an. Das erste FCB-MK-Spiel meines Sohnes mit 4 Jahren, sein erster „Barfi“ mit sechs, sein Erstkommunions-Geschenk das erste MK-Abo und seither das „Götti-Gschänk“. Nie hatte ich Angst mit ihm, auch nicht an jemem 13. Mai, dem Basler „Ground Zero“. Wir waren traurig und enttäuscht, verliessen das Stadion hinter der MK und gingen nach Hause. So einfach ging das, wenn man wollte. Fürs Protokoll: Ich hatte bei einem FCB-Match in der MK nie Angst, wenn ich mit meinen Kindern dort war. Das Joggeli war immer eins der ungefährlicheren Familien-Freizeitbeschäftigungen.

Die beiden Ausnahmen waren die FCZ-Pyrowerfer 2008, und als mein Sohn beim Spiel Luzern-Brasilien von Luzernern wegen seiens FCB-Schals angepöbelt wurde. Aber das war ja nicht in Zusammenhang mit der MK.

Fahnenmast mit Vorspiel

Aufgang in ein Kraftwerk der Seele.
Aufgang in ein Kraftwerk der Seele.

Der Film dreht weiter im: In den 80-ern war Treffpunkt „bei den Fahnenstangen“, meine überdimensionierte Fahne dabei, 90 Minuten vor dem Spiel, schliesslich wollte ich auch das Vorspiel nicht verpassen (Weiss noch jemand, was das ist?). Verbrennte Fahnen der gegnerischen Fans in der Pause kommen mir auch in den Sinn, von weither betrachtete Pausen-Schlägereien beim „Gellert-Tor“ inmitten des Publikums, FCB-Chênois vor 4500 Zuschauern (3:1, ich hatte meinen ersten Schulschatz mitgenommen). Fussball mit dem FC Basel war anders schön als heute, und überhaupt, ich sollte nicht nostalgisch werden.

Nun, ich befand: mein Sohn ist alt genug, seine nächsten Kurvenschritte ohne seinen Vater zu gehen. Er hat das Alter von Muris Rückennummer und ist ein toller Kerl.

Sicht vs. Stimmung

Nicht alle in der MK mochten solche Fotos...
Nicht alle in der MK mochten solche Fotos…

Und ich? Das Sicherheits-Netz wurde mir immer mehr zur Sichtbehinderung, im Veteranen-Alter keine Sünde. Die Stimmung genoss ich bis zum Schluss, aber musste von jungen Fans nicht mehr angemacht werden, wenn ich mit dem Natel die Choreo von „unten“ fotographierte. Und ich wollte mehr vom Spiel sehen. Wehende Fahnen vor den Augen in genau dem Moment, wenn ER einen Steilpass spielt, hatten begonnen, mich zu stressen. Alterserscheinungen eben.
Also gönnte ich mir ein Abo unten am Bahndamm. Wie wird das sein?

Gleich anders und anders anders

Neue Sicht aufs Feld.
Neue Sicht aufs Feld.

Nun: es ist anders. Na gut, das überrascht nicht. Aber es ist anders anders als erwartet.

Zuerst mal das erwartete „Anders“. auf Höhe Mittelline am „Regenrand“ zu sitzen, da geniesse ich den Fussball von ganz nahe. Ich höre die Spieler rufen und das Geräusch von Safaris Pässen. Ich sehe Xhaqas verdrehte Augen, wenn der Linienrichter falsch winkt und höre, wenn Suchy auf dem Rasen entlanggrätscht, ich sehe Gashis stetig entschlossenen Adler-Blick und Degens vor Tatendrang flackernde Augenlider.

Ich kann auch mal erst 5 Minuten vor Spielbeginn kommen, und ich kann in aller Ruhe die wunderschönen Choreos der MK fotographieren und meinem Sohn schicken. Ich merke, wie ich bei einem neuen MK-Gesang den Text nicht verstehe, und ich versuche manchmal, meinen Sohn im Pulk zu entdecken. Gleich beim ersten Spiel, an das er ohne mich ging, hat er sich einen Kurven-Pulli gekauft. Wunderbar. So muss es sein.

So weit, so erwartet anders.

Anstehen und Anstand – Ist die Wurst wurst?

Seit eh und je auf FCB-Empfang eingestellt
Seit eh und je auf FCB-Empfang eingestellt

Und es gibt auch „anders anders“, zum Beispiel das Catering. Am Anfang dachte ich, das ist irgendwie psychosomatisch, aber auch nach der fünften Gegenprobe bleibt die Frage offen: Wie kann es sein, dass die Bratwürste in der MK schmackhafter und besser zubereitet sind und die Brotstücke grösser? Auch nach vielen Spielen ist mir das immer noch ein Rätsel. Ist es nicht die gleiche Metzgerei, nicht das gleiche Catering? Mysteriös.

Ebenfalls mysteriös, überraschend und störend: Anstehen für Speis und Trank in der MK ist eine entspannte, lockere, anständige Sache, bei der jeder zuvorkommend in der Schlange wartet, bis er dran kommt. Diesen Basis-Anstand müssen die C-Zuschauer offenbar erst noch (oder wieder) lernen: Vordrängen, Ellenbogen, ein wilder Haufen vor jedem Stand.Schräg.

Die besten Trainer der Welt sind Rohrspatzen

Neue Nachbarn.
Neue Nachbarn.

Zugegeben, nur halb unerwartet: Im C sitzt eine Heerschar von Weltklasse-Trainern mit entsprechendem Selbstbewusstsein. Würde der FC Basel die Aufstellung und die Auswechslungen via Smartphone-App vom Sektor C bestimmen lassen – der FC Basel stände garantiert im Finale der Champions League. Mindestens.

Überraschend un-anders als in der MK ist jedoch der Wortschatz. Auch hier wird nach Herzenslust geflucht, die Ausdrücke umfassen den gesamten Körper und am liebsten südlich des Bauchnabels…

Irritierend anders anders: Werden in der MK die Gegner beschimpft, schimpft die Gegengerade mit Vorliebe über die eigenen Spieler.

Weitergeben des Feuers

Neue Sicht auf die MK.
Neue Sicht auf die MK.

Die „Subkultur Gegengerade“ barg also viele kleine Überraschungen für mich. Und ich erlebte erstaunt und erfreut, dass viele Vorurteile über „die MK“ oder „die Gegengerade“ eben genau das sind: VOR-Urteile.

Hier wie dort ist jedoch dasselbe gefragt: Humor, Gelassenheit, manchmal ein „Göschenen-Airolo“-Not-Schalter, Selbstironie. Es ist wie mit dem „einen Leib und den vielen Körperteilen“: An unterschiedlichen Orten funktioniert es anders, und durch alle Adern fliesst das gleiche FCB-Blut. Und wenn es klappt, dann wird der ganze Körper von Gänsehaut ergriffen, wenn das Stadion bebt.

 

Ich geniesse meinen neuen Stadionplatz, lasse mich auf neue Art vom Geschehen auf dem Rasen packen, und ich schaue mit Freude und Stolz auf die MK. Und ich weiss, irgendwo steht da auch mein Sohn. Denn Tradition, das ist nicht das Hüten der Asche. Tradition ist das Weitergeben des Feuers.