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Wer geht schon nach Weissrussland… 2/3

Eine ungewöhnliche Reise, Teil 2:
Freundschaft jenseits der Sprachgrenzen und was der dritte Toast bedeutet, der lange Schatten des Krieges, und wieso Belarus das Eldorado für Zirkusartisten ist.

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Freundschaft in den Worten der Sprachlosigkeit

Der Tisch, Zeichen der Gastfreundschaft
Der Tisch, Zeichen der Gastfreundschaft

Die Frau des Direktors und ihre beiden erwachsenen Kinder reden allesamt fliessend Deutsch. Irinas Familie ist über einen abenteuerlichen Weg von Litauen über Wladiwostok und Magdeburg in Belarus gelandet, wo sie als Deutschlehrerin arbeitete. Der Direktor selber versteht zwar einiges an Deutsch, kann aber nur einige Brocken sprechen.
Die Freude, seine Freunde wieder zu treffen, und deren Sohn und Neffen kennen zu lernen, drückt sich in jeder Faser seines Gesichts und seines Körpers aus, doch sind dem sprachlichen Ausdruck davon engste Grenzen gesetzt.

Er überwindet diese Grenzen beim ersten Abendessen zuhause in ihrer Stadtwohnung anders: Immer wieder umarmt er meinen Vater, wiederholt er seinen Namen, sagt mit strahlendem Gesicht “meine Freunde”, erwähnt einzelne Worte von gemeinsamen Erlebnissen aus der Geschichte ihrer langen Freundschaft.

Andere Kulturen akzeptieren heisst auch das...
Andere Kulturen akzeptieren heisst auch das…

Mein Vater versteht diese Sprache und reagiert mit bestätigendem Lachen, einzelnen Worten als Antwort. Meinen Sohn hat der Rektor sofort in sein Herz geschlossen und zeigt ihm mit unverhohlenem Stolz seine Waffensammlung von Jagdmessern über Schwertern bis zur kleinen Kanone und der Kalashnikov, und Boris lässt es sich aus lauter bubenhafter Begeisterung nicht nehmen, für Elisha zwei Schreckschusspatronen in das Gewehr einzulegen und mitten in der Wohnung abzufeuern.
Ich weiss, dass hier nicht der Platz für pazifistische Gedanken ist, hier geht es um etwas anderes, nämlich um den Ausdruck von Freude in Freundschaft in der einzigen möglichen Form Kommunikation, die gerade zur Verfügung steht. Der Direktor droht unter diesem Mix von Freude und Sprachlosigkeit bisweilen beinahe zu platzen. Es berührt mich, Zeuge dieser Freundschaft und dieser Kommunikation zu sein.

Kein Wunder dann, dass beim Essen dann ein “Toast” den nächsten ablöst. Dass gemeinsam Essen und Trinken Kommunikation und Freundschaft in sich trägt, das ist ja nun nichts neues. In Ermangelung von gemeinsamer gesprochener Sprache ist deren tiefere Bedeutung einfach noch deutlicher spürbar.

Der dritte Toast:

Ein Toast: Der Jüngste hat schnell gelernt, worum es geht.
Ein Toast: Der Jüngste hat schnell gelernt, worum es geht.

Toasts, Trinksprüche sind die Möglichkeit, Wichtiges offiziell zu sagen,
ohne dass es gleich eine Rede sein muss.
…natürlich sind Toasts auch die “Erlaubnis”, einen weiteren Wodka zu kippen, schon klar.
Auch bei Toasts gibt es eine Etikette, die es zu beachten gilt.
Und: der wichtigste Toast in Weissrussland ist der dritte.
Danach ist es den Männern auch erlaubt, ihr Jackett abzulegen – falls ihre Frauen damit einverstanden sind.

Dass es dem Schweizer dann gelingt, den Wodka wie ein Husar zu trinken,
bringt ihm die allerhöchste Achtung ein.
Die alten russischen Reiterhelden stellten das Wodkaglas auf den abgewinkelten Ellbogen (damit sich das daneben stehende Pferd nicht am Feuerwasser vergreift)
und führten das Glas so an die Lippen.

 

“Alles hängt mit dem Krieg zusammen”

Ein Stern gleich ein abgeschossener faschistischer Panzer.
Ein Stern gleich ein abgeschossener faschistischer Panzer.

Es war ein steiler Einstieg in die Woche in Minsk: Gleich am ersten Morgen besuchten wir das brandneue “Museum des Grossen Vaterländischen Krieges” (so heisst der zweite Weltkrieg hier). Modern aufgezogen, gut gemacht – aber harte Kost, wie ungebrochen direkt der Krieg dargestellt, die alten Kanonen präsentiert, die Belarussischen Kriegsdetails dokumentiert werden.

“Der Sieg über die Faschisten” wird auch 70 Jahre nach Kriegsende gelobt und gefeiert, als wäre es erst gestern gewesen.
Befremdend für mich, und ich hab schon bald genug von den Heldenposen, von den Kennzahlen der Kriegsflugzeuge und den zahllosen Exponaten.
Erst während der Woche wird mir bewusst, wie sehr Belarus vom zweiten Weltkrieg geprägt ist. 95% zerstörte Fläche der Hauptstadt Minsk, die Bevölkerung von 2,5 Millionen auf 500’000 reduziert, insgesamt musste ein ganzes Viertel der Belarussischen Menschen im Krieg sterben; 230 Konzentrationslager, allein 16 Kinder-KZs (ich wusste nicht einmal, dass es sowas gibt).

Eine Stille, die Würde und Schrecken verbindet.
Eine Stille, die Würde und Schrecken verbindet.

Trauriges Mahnmal für diesen Kriegshorror ist das Bauerndorf Chatyn, idyllisch gelegen in einer weiten Waldlichtung, das 1943 von der deutschen Armee dem Erdboden gleichgemacht und sämtliche Einwohner – Männer, Frauen, Alte, Junge, Säuglinge – in einer Scheune verbrannt wurden.
Der „Ground Zero“ der Belarussen.
Feinfühlig und eindrücklich wurde dieser Ort des Gedenkens gestaltet. In den stilisierten Kaminen der Bauernhäuser – das einzige, was nach dem Niederbrennen noch übrig blieb – läuten alle 30 Sekunden die Glocken, stellvertretend für die insgesamt 2900 im Krieg zerstörten Belarusisschen Dörfer und für die zweieinhalb Millionen Toten – anders als Genozid kann man das beim besten Willen nicht nennen.

Als wäre es erst gestern gewesen...
Als wäre es erst gestern gewesen…

Und je länger ich hier bin, desto mehr realisiere ich, wie tief dieser Genozid den Belarussen noch in den Knochen steckt, auch und gerade wenn es um gegenwärtige politische Konflikte geht.

 

 

 

Deutsche? – Nein: Faschisten!

Kriegsdevotionalien, nicht ironisch gebrochen.
Kriegsdevotionalien, nicht ironisch gebrochen.

Wann immer vom Krieg die Rede ist,
nennen Belarussen die Gegner “Faschisten” –
ein Begriff, der bei uns komplett aus dem aktiven Wortschatz verschwunden ist.
Umso irritierender war es, ihn ständig zu hören.
Nach einigem Nachdenken war dann aber klar,
wieso das so ist:
in der Vorstellung der Belarussen sind es politische Systeme,
welche aus Menschen Kriegsmaschinen machen,
und keine Nationalitäten.
Sie können nicht von “den Deutschen” reden, wenn sie von den Schrecken des Krieges erzählen, denn “Deutsche”, das sind immer Menschen wie sie selber.
“Faschisten” hingegen hilft als innere Distanzierung davon, sich vorstellen zu müssen, wozu menschliche Wesen fähig sind.

Belarus – Eldorado für Artisten

02-07circ1Ein Höhepunkt der Woche in Minsk war die Einladung in den Belarussischen Nationalzirkus – fest installiert, mit zwei bis drei neuen Programmen im Jahr. Von der Ehrenloge aus durften wir die Kunststücke von Artisten rund um den Globus bewundern, mit dem Zirkusdirektor gab es ein Bankett (mit – erraten: vielen “Toasts”).

Der Regisseur (ein Armenier, in Aleppo geboren, FC Basel-Fan) führte uns hinter die Kulissen des Nationalzirkus und erzählte uns von seinen Herausforderungen: “Es ist immer dasselbe: die Künstler von all diesen Ländern wollen am Anfang nicht hierher nach Belarus kommen, die Transporte sind wegen den Sanktionen immer unglaublich kompliziert – und wenn sie dann hier sind, dann wollen sie nicht mehr weg. Das Publikum hier ist zirkusverliebt, und Zirkusartisten geniessen vom Staat Wertschätzung und Unterstützung. Belarus ist das Eldorado für Zirkusartisten.” – Sagts und drückt mir eine Flasche vom allerbesten Belarussischen Wodka in die Hand. Das hatte ich nun auf mehreren Ebenen wirklich nicht erwartet.

02-04colaIm dritten Teil: The Spirit of Belarus, Rumänien und Belarus, und einige politisch unkorrekte Fragen zum Schluss.
Wer geht schon nach Weissrussland, Teil 1


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