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#diejugendvonheute

Graffiti bei einer WB-Station.

Ein Dienstag Nachmittag, viertel vor vier Uhr in der WB. Gut gefüllter mittlerer Wagen, ich lese Zeitung, rund um mich sitzen Jugendliche auf der Heimfahrt von der Schule in Liestal. Zwei davon am Natel, wie erwartet, einer scheint zu chatten, einer zu gamen. Einer geht seine Wörtlikärtli durch. Man ist zusammen auf dem Heimweg wie schon hunderte von male, man muss nicht reden, um die Gemeinschaft zu spüren.

Die WB bremst, um bei der Station Weidbächli anzuhalten. Eine junge schwarze Mutter mit Kinderwagen schickt sich an, auszusteigen, dreht den Wagen um 180 Grad und macht sich bereit. Die WB hält. Einer der drei 18-Jährigen, nennen wir ihn David, steht auf, bückt sich zum Kinderwagen hinunter, greift die Vorderachse. Der Wagen wird auf diese Weise sanft und ohne Geholper aus der WB gehievt. Während dieser Zeit drückt sein Kollege, ohne vom Natel aufzusehen, die ganze Zeit den „Aussteigen“-Knopf, damit die Tür offen bleibt.

Die Mutter ist mit ihrem Kind auf dem Perron, die Türe schliesst sich, David setzt sich hin und widmet sich wieder seinen Wörtli. Niemand hatte vor, während und nach der Szene ein Wort gesagt, es war eine Szene von ein paar Sekunden.

Auch ich sage nichts, natürlich. Aber innerlich bin ich berührt, genau von dieser Beiläufigkeit.

Diese selbstverständliche Alltags-Freundlichkeit ganz normaler Jugendlicher, die es nie auf eine Frontseite einer Zeitung schaffen wird.

Ich finde: es ist eine #tollegeneration!

 

Über Verstehen und Verzeihen

Der Film „Narben der Gewalt“ über ehemalige Basler Schläger war ein Gassenfeger. Der Regisseur Alain Godet zeigte Menschen statt Monster und stellt ganz zum Schluss die wichtigste Frage…

18 Jahre später. Die vier ehemaligen Schläger erzählen von damals, und von ihrer Kindheit.
Regisseur Alain Godet hat über Jahre hinweg ihr Vertrauen gewonnen, sie sitzen in einem Bunker, wie als Symbol für ihre eingebunkerte Seele. Farbiges Licht.
Die vier Männer zeigen sich nackt, zeigen ihre äusseren und inneren Verletzungen.
Für diesen Mut gebührt ihnen schon mal ein riesiger Respekt.
Zum Beispiel Jimmy. Als Neunjähriger wurder er als Strafe für schlechte Schulleistungen erst „wie üblich“ im Keller verprügelt und musste mitansehen, wie sein Vater Jimmys Hund und die vier Welpen erschoss. Danach musste Jimmy die Hunde selber verscharren.

“das musste ja so kommen” und “freie Entscheidung”

Wer wundert sich da noch über die Folgen von solchen Geschichten?
Regisseur Alain Godet urteilt nicht. 50 Minuten 55 Sekunden lang nicht. Erst in der allerletzten Einstellung fragt er:
„Mir sind die Jungs ans Herz gewachsen. Ich habe viel verstehen gelernt in den Jahren. Aber heisst viel verstehen auch viel verzeihen?“

Peng. Das schlägt Brücken. Zu den Opfern. Und zu uns.
Denn auch wenn wir es uns mit diesen Schlägern einfach machen können („wir sind ja nicht so schlimm“) – das Prinzip ist immer das Gleiche. Auch bei uns.
Es ist das selbe, mit unseren Geschichten, unseren Narben, unseren dunklen Seiten. Oder bei den Menschen in unserer nächsten Umgebung.
Wenn wir uns in die dunklen Abgründe unserer Seele hinab getrauen (und wer hat schon den Mut wie diese Vier?), werden auch wir Dämonen, Narben und schwarze Löcher finden.

Eine Frage des genauen Hinschauens

Auch bei nervigen, schwierigen Menschen in unserem Umfeld ist die „das musste ja so kommen“-Ebene nur eine Frage des genauen Hinschauens.

Und doch spüren wir: die eigenen Narben machen Untaten nicht entschuldbar. Es ist immer beides da: die „Notwendigkeit“ und die „Freiheit“, etwas zu tun. Oder eben nicht.
Dass etwas so kommen „musste“, dass ich etwas tun „musste“, hilft zum Verstehen. Ja.
Aber es befreit uns nicht von der Verantwortung, anderen damit Schaden zugefügt zu haben.
Ich bin vielleicht Opfer meiner eigenen Erlebnisse. Aber ich bin auch TäterIn.

Der lange Weg der Versöhnung

Und doch: Erst wenn jemand hinter die Worte (oder hinter die Sprachlosigkeit!) hört, erst wenn jemand zuerst urteilslos versteht und Mitgefühl zeigt, wird eine innere Veränderung überhaupt erst möglich.
Erst wenn TäterInnen von innen her verstanden werden, können sie sich selber verstehen und wird es ihnen möglich, ihren inneren Schutz-Panzer aufzubrechen.
Erst dann wird es möglich, den Schritt zu machen, zu sehen, was sie mit ihren Handlungen für Schaden angerichtet haben.
Und erst dann ist es möglich, den Opfern gegenüber Reue zu zeigen. Und offen um Vergebung zu bitten. Und erst dann ist Versöhnung möglich.

Ein langer Weg ist das. Nicht JedeR hat das Glück, solchen Menschen zu begegnen. Und Menschen, welche Anderen mit diesem Verständnis begegnen können, gibts auch nicht wie Sand am Meer.

Glücklich ist, wer…

Deshalb zum Schluss ein paar “Seligpreisungen”:
Glücklich ist, wer einen Menschen findet, der ihm oder ihr mit urteilslosem Verständnis begegnet.
Glücklich ist, wer seine/ihre schlimmen Erlebnisse heilen lassen kann.
Glücklich ist, wer den Mut hat, den langen Weg der Versöhnung zu gehen.

Es lohnt sich. Thierry Moosbrugger

27.1.2012, kja-baselland

der film in voller länge auf dem sf-videoportal