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Archiv der Kategorie: Jurnal 2013

Das Monstrum

Montag, 17.7., Teil 1.  „Bis jetzt ha-n-i also no nüt überwältigend schöns gseh“, meint Tobit nach der Hälfte der Bukarest-Busrundfahrt. Tja, so ist das halt hier.

Stop Verkehr - Start Spiel. Und das auf einer Hauptverkehrsachse jedes Wochenende im Sommer...
Stop Verkehr – Start Spiel. Und das auf einer Hauptverkehrsachse jedes Wochenende im Sommer…

Dabei redet die Stimme im Kopfhörer immer wieder in Superlativen: das Grösste Europas hier, das Grösste Europas da… zum Beispiel „das grösste Pressegebäude“. Und da sind wir dann bereits bei einem Knackpunkt: Ceaucescu hatte das Gebäude „Palast der freien Presse“ genannt und sämtliche rumänischen Zeitungen wortwörtlich in einen „Newsroom“ versammelt, bevor es diesen Begriff überhaupt gab. …und ein Schelm, wer das News-Monopol von damals mit bestehenden oder geplanten „Newsrooms“ von heute verbindet…

130715buk(37)Das Mitmachen in Ceaucescus Projekt war natürlich freiwillig. Zeitungen, die es vorzogen, nicht dort einzuziehen, wurden jedoch merkwürdigerweise innert eines Jahres einfach nicht  mehr gelesen und gingen ein… Bereits damals erhielt der Palast innert Kürze den Beinamen „Palast der unfreien Presse“, man wundert sich…

Wir fahren nochmals dem Spiel-Strassenabschnitt entlang und sind nochmals ganz beglückt über die Vorstelung, was hier wohl am Wochenende abgeht – und das so etwas hier möglich ist…

130715buk(36)Sieg über das Volk

Und dann kehren wir aber zum Galgenhumor zurück. Er erreicht seinen Höhepunkt im „Palast des Sieges über das Volk“, von Ceaucescu natürlich Palast des Volkes genannt.

Auch hier Superlative, die allesamt vom perversen Grössenwahnsinn des Ehepaars Ceaucescus zeugen. Viele davon bei Wikipedia nachzulesen, aber einige doch hier zitiert, des schieren Irrsinns wegen: Zweitgrösstes Gebäude der Welt, 5100 Räume, davon 3000 Zimmer, jedes einzelne erst im 1:1-Massstab als Modell gebaut und erst umgesetzt, wenn Elena und Nicolae Ceaucescu ihr Ja dazu gegeben haben, für den Bau wurden 40‘000 Wohnungen dem Erdboden gleichgemacht. Undsoweiter.

Presse-Raum
Presse-Raum

Bereits zweimal habe ich umsonst versucht, den Palast zu besichtigen, nun hat es geklappt. Einmal war meinen Mitreisenden die “Sicherheitssituation” zu übergriffig, einmal war er geschlossen. Nun also klappts. Die kleine Eingangshalle auf der Palastseite ist gestosssen voll mit BesucherInnen.

Empfangshalle
Empfangshalle, Frontansicht

Das erwartete Prozedere nimmt seinen Lauf: Beim Empfang muss ich die Reservation der Führung bestätigen lassen. Warten. Wir erhalten einen kleinen Zettel mit einem kryptischen Gekritzel drauf. Warten. Dann müssen wir in das Palast-Lädeli auf der anderen Seite, um die Bestätigung zu bestätigen und zu zahlen. Warten. Dann in die Reihe einreihen. Warten. Dann müssen wir unsere Identitätskarten abgeben(!), dafür erhalten wir einen „Turist“-Badge mit Zahl. Warten. Als krönenden Abschluss eine Zutrittskontrolle wie im Flughafen, nur länger. Dann: warten. Insgesamt eine Fussballhalbzeit lang verbringen wir in dem Vorraum.

Wertvolles Warten mit “Warum?”

Im Flugzeug habe ich einen Artikel gelesen, Reisende und Touristen unterscheiden sich durch den Umgang mit der Zeit. Touristen sind immer in Hast, Reisende erleben im Warten Wesentliches.
In Rumänien gibt es also keine Touristen, und die Kinder nützen das Warten im Vorsaal dieser Geschichtsstunde für allerlei Warum-Fragen (“Warum darf man den Polizisten nicht fotografieren?” – “Warum müssen wir die Pässe abgeben?” – “Warum lampen die Kabel zur Wand raus?”) – schweisstreibendes Fitnesstraining für meine grauen Zellen. Warten und Warum: zwei wertvolle “W”s.

Empfangshalle
Empfangshalle, von der Seite

Grössenwahnsinn in XXL

Dann geht’s los. Zwei Stunden lang gehen wir durch verschiedene, hohe Räume, allesamt in XXL. Theatersaal für Pressekonferenzen, Saal (90 Meter länge) für die Unterschrift von internationalen Abkommmen, Eingangshalle für die Ausstellung von verschiedenen Nationaltrachten, Vorsaal zum Ballsaal, Ballsaal, und immer mit dicken prachtvollen Teppichen und Kristall-Leuchtern (insgesamt stecken 1‘500 Tonnen Kristall hier drin).
Gesamter Baupreis übrigens: 40 Milliarden Franken.

Der Grössenwahnsinn des Diktator-Ehepaares springt einen aus jedem einzelnen Raum an. Und mensch ist immer nur solange beeindruckt, wie das Hirn nicht mit Eindringlichkeit meldet, dass in der Bauzeit des Palastes das rumänische Volk unter Hungersnöten und der beinharten Diktatur litt. Auch 24 Jahre nach der Revolution kommt dann immer wieder die Wut hoch.

Sicht vom Eingang nach Aussen. Ceaucescus Plan war von hier eine gerade Strasse bis an 250km entfernt gelegene Meer zu bauen...
Sicht vom Eingang nach Aussen. Ceaucescus Plan war von hier eine gerade Strasse bis an 250km entfernt gelegene Meer zu bauen…

Neu schon heruntergekommen

Typisch Rumänisch: Kristall-Lampe, und dann eine Lampe einfach irgendwie reingesteckt...
Typisch Rumänisch: Kristall-Lampe, und dann eine Lampe einfach irgendwie reingesteckt…
Keine Steckdose und kein Schild ist gerade montiert.
Keine Steckdose und kein Schild ist gerade montiert.
Risse im Marmor
Risse im Marmor

Dennoch: nach zwanzig Jahren wirkt der Palast schon völlig heruntergekommen. Die rumänische Nachlässigkeit zeigt sich an jeder Ecke, sobald mensch genauer hin schaut. Steckdosen schräg montiert, überall hängen Kabel aus den Wänden, in den Ecken bröckelts, es zeigen sich erste Risse in den Mauern.

Überall mssenweise Feuerlöscher, irgendwo achtlos hingestellt ( - bloss: was soll da überhaupt brennen?)
Überall mssenweise Feuerlöscher, irgendwo achtlos hingestellt ( – bloss: was soll da überhaupt brennen?)

Man könnte denken, das sind alles kleine Akte der Verweigerung, kleine „Äätsch-Bäätsch“ der Rumänen gegen das Diktatorenpaar, die einzige kleine Möglichkeit des Widerstandes.

Nur leider haben auch ganz normale Häuser, Autos, Strassen etc. diesen Touch…

Mit zwei Lieblingsanekdoten über den Palastbau schliesse ich dieses Kapitel. Eine kannte ich schon, eine war neu für mich.
Die neue ist:

Der Ballsaal, 90 Meter lang. hinten in der Mitte der Platz für den Spiegel(!)
Der Ballsaal, 90 Meter lang. hinten in der Mitte der Platz für den Spiegel(!)

Das Bildnis

Im riesigen Ballsaal sind auf den beiden beiden Stirnseiten zwei 16 Meter hohe Flächen vorgesehen, die heute leer sind.
In der ersten Version war geplant, dass auf der einen Seite ein Portrait von Nicolae, auf der anderen Seite ein Portrait von Elena Ceaucescu angebracht wird.
In der zweiten Version dann war vorgesehen, dass auf der einen Seite ein Portrait von Elena Ceaucescu bleibt, auf der anderen Seite jedoch ein 16 Meter hoher Spiegel angebracht wird…

Und meine andere Lieblingsanekdote heisst

Die Treppe. Nicht geeignet für die Schrittlänge von Yael
Die Treppe in die Empfangshalle: Nicht geeignet für die Schrittlänge von Yael – bitte neu bauen!

Die Treppe

Um offizielle Gäste prunkvoll und eindrücklich empfangen zu können, wurde hinten an die offizielle Eingangshalle links und rechts eine grosse Marmortreppe gebaut, von der dann links Elena und rechts Nicolae Ceaucescu die Treppe herunter schreiten konnten. Damit das Diktatoren-Ehepaar möglichst natürlich gehen konnten, mussten Länge und Höhe der Treppenstufen an ihre Schuhgrösse und Schrittlänge angepasst werden. Und das Ehepaar liess die ganze Marmor-Treppe 3 mal komplett niederreissen und neu bauen, weil ihnen beim „Test-Gehen“ etwas nicht passte.

Und nun verlassen wir diesen Irrsinn.

Das Monstrum: Ceaucescus Ode an den eigenen Wahnsinn.
Das Monstrum: Ceaucescus Ode an den eigenen Wahnsinn.

Unerwartetes in “Freudenstadt”

Sonntag, 14.7. Reisetag. Mit müden Knochen in den Moloch Bukarest eintauchen – und die Ankunft ist geprägt von Seiten, die ich in Bukarest (was wörtlich „Freudenstadt“ heisst) nicht erwartet und der Stadt auch nicht zugetraut hätte. Schön!

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Aussicht über den “Piata Universitarii”

Angenehme 29 Grad erwarten uns am Flughafen, und zum ersten mal weiss ein Taxi-Fahrer sofort, wo die Strasse unseres Hotels liegt.
Auf halbem Weg ist der Taxi-Fahrer froh, weil er keinen Umweg fahren muss. Denn 400 Meter der Hauptverkehrsachse sind im Juli und August jeweils von Freitagabend bis Sonntagnachmittag total gesperrt für – man halte sich fest – Street Games.

Sicht in den Hinterhof
Sicht in den Hinterhof

JAWOHL, FÜR FREIES SPIELEN AUF DER STRASSE! „Stop Trafic – Start Joci!“ steht auf rund einem Dutzend grosser Transparente über der Strasse. Und wie gesagt, das ist keine Seitenstrasse in einem Quartier, das ist die Hauptverkehrsachse Bukarests!

Spuren alter Schönheit
Spuren alter Schönheit

Spuren vom und zum “kleinen Paris”

Nach einer erholsamen Siesta dann rein in die Fussgängerzone. Hier hat Bukarest einfach weitergemacht, wo es aufgehört hat. Noch mehr Beizli, mehr Bars, alles sehr gemütlich, alles sehr voll (Sonntagabend!), vorherrschend ist gemütlicher englischer Pub-Stil, alles sehr Open-air. Und vor allem: alles sehr gepflegt, die Stimmung gemütlich und aufgeräumt. Welten vom Bukarest von vor zehn Jahren, Welten vom ländlichen Rumänien im Nordosten.
Wiederum fallen mir die vielen Reste der einst wunderschönen Häuserfassaden auf, welche mit dazu führten, dass Bukarest Anfangs 20. Jahrhundert „das kleine Paris“ genannt wurde.
Man muss nach oben und manchmal genauer hinschauen, um die Zeugen der alten Schönheit zu sehen. Hinter dem Schmutz, dem Zerfall, der Kriegsgewalt haben viele der Ornamente, Figuren etc. ihre Aura verloren. Behalten haben sie ein enormes Potenzial, falls jemand es dann fördern kann.
Doch wenn die Entwicklung so weiter geht, wer weiss, vielleicht liegt die Vergangenheit Bukarests auch wieder in der Zukunft?

Klassiker(1): Kabelgewirr
Klassiker(1): Kabelgewirr

“Wie immer” und “wie noch nie”

Den Zahn der Zeit überstanden haben jedenfalls schon mal die unsäglich feinen Desserts und (zumindest in unserem Restaurant) sowie die desinteressierte Bedienung.
Sehr gespannt bin ich darauf, wie das in den Läden und den Shopping-Centers sein wird.

Klassiker(2): Halsbrecherischer Gerüstbau
Klassiker(2): Halsbrecherischer Gerüstbau

Auf dem Weg zurück zum Hotel bekannte und unbekannte Miniaturen: Die alte schöne kleine orthodoxe Kirche war schon im November 2011 eingerüstet. Und die Gerüst-„Konstruktion“ aus Holz erscheint immer noch halsbrecherisch. Das unerwartete daran ist, dass sie nicht eingekracht ist…

Klassiker (3): Clatite zum Dessert
Klassiker (3): Clatite zum Dessert

Erwartet auch die unvermeidlichen Elektro-Kabel-Gewirrnisse an den Pfosten. Es ist mir schlicht ein Rätsel, was die Elektriker daran hindert, die Kabel passend abzuschneiden…

An den Wänden zwei Tags, die ich in Bukarest ebenfalls nicht gewohnt bin: Ein kleines Ornament-Herz, zärtlich in eine „Unterschrift“ eingebaut, und ein ebenso zärtliches „o sa fie totul bine“ („alles kommt gut“) auf der Betonwand eines Wohnhauses.

Konzert an der Verkehrsachse
Konzert an der Verkehrsachse

Oasen an der Verkehrsachse

Zurück im Hotel machen wir noch eine Runde um den Häuserblock und treffen auf zwei Kleinode: gegenüber auf der anderen Seite des „Plata Universitarii“ findet ein kleines Klassik-Konzert statt, vom Quartier wurde eine Reihe „Sommer-Konzerte“ organisiert, open-air, gratis, hinter der Bühne spielen Kinder auf dem Rasen, hinter den zahlreichen Zuschauer findet der Sonntagabendverkehr statt.

Vorne spielende Kinder, in der Mitte klassische Musik, hinten Sonntagabendverkehr
Vorne spielende Kinder, in der Mitte klassische Musik, hinten Sonntagabendverkehr

Hier so eine kleine Oase, die Menschen geniessen die Klänge, als gäbe es keinen Verkehrslärm, sie scheinen es zu geniessen, mitten in dem Millionen-Moloch ihren Sonntagabend so verbringen zu können, es hat mindestens doppelt so viele Zuhörer, die zu den vorbereitenen Publikumsstühlen noch rundherum stehen.
Klein aber fein.

Auf der Suche nach einer Wasserflasche (alle uns bekannten „Lädeli“ in Hotelnähe sind mittlerweile Beizli geworden) unterqueren wir den Universitätsplatz nochmals, und landen auf der anderen Seite nochmals in einer sonntagabendlichen open-air-gratis-Veranstaltung.

Bisher resierviert für Verseni...
Bisher resierviert für Verseni…

Der Platz vor der Nationalbank war vor einem Jahr noch ein einziges riesiges Bauloch, nun ist über der Tiefgarage wieder der Platz hergestellt, und darauf sind dutzende Sitz- und Liegemöglichkeiten aufgestellt (alle in Form von Schafen und kleinen Grasstücken) – „Die Wiese in die Städte“ heisst der Anlass, jedes Wochenende finden Gratis-Konzerte oder wie heute ein Zauberer-Auftritt und eine Serie Kurzfilme statt. Auch hier lassen viele Menschen ihren Sonntag friedlich ausklingen, auch hier blendet man irgendwie innert Sekunden den Verkehr der Durchmesserstrasse aus.

...aber kann mensch an Freudenstadt vielleicht doch auch sein Herz verlieren?
…aber kann mensch an Freudenstadt vielleicht doch auch sein Herz verlieren?

Freude über das eigene Vorurteil

Ich bin völlig eingenommen von diesen zwei kleinen Szenerien. Vor ein paar Jahren hätte ich so etwas n Bukarest nie für möglich gehalten.

Es freut mich, wie meine Vorurteile sich als ebendiese herausstellen, es freut mich, dass ich das erleben darf, es freut mich, diese feinen Veränderungen alle noch zu sehen. Das macht mich zuversichtlich für die Zukunft dieser Stadt und dieses Landes. Nicht heute, nicht morgen, aber langsam, so wie Neues eben wächst.

Was für ein schöner Beginn in meine „Verseni-Abschiedstour“.

"Alles wird gut" - unerwartetes Graffiti in Bukarest
“Alles wird gut” – unerwartetes Graffiti in Bukarest