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Über Verstehen und Verzeihen
Der Film „Narben der Gewalt“ über ehemalige Basler Schläger war ein Gassenfeger. Der Regisseur Alain Godet zeigte Menschen statt Monster und stellt ganz zum Schluss die wichtigste Frage…
18 Jahre später. Die vier ehemaligen Schläger erzählen von damals, und von ihrer Kindheit.
Regisseur Alain Godet hat über Jahre hinweg ihr Vertrauen gewonnen, sie sitzen in einem Bunker, wie als Symbol für ihre eingebunkerte Seele. Farbiges Licht.
Die vier Männer zeigen sich nackt, zeigen ihre äusseren und inneren Verletzungen.
Für diesen Mut gebührt ihnen schon mal ein riesiger Respekt.
Zum Beispiel Jimmy. Als Neunjähriger wurder er als Strafe für schlechte Schulleistungen erst „wie üblich“ im Keller verprügelt und musste mitansehen, wie sein Vater Jimmys Hund und die vier Welpen erschoss. Danach musste Jimmy die Hunde selber verscharren.
“das musste ja so kommen” und “freie Entscheidung”
Wer wundert sich da noch über die Folgen von solchen Geschichten?
Regisseur Alain Godet urteilt nicht. 50 Minuten 55 Sekunden lang nicht. Erst in der allerletzten Einstellung fragt er:
„Mir sind die Jungs ans Herz gewachsen. Ich habe viel verstehen gelernt in den Jahren. Aber heisst viel verstehen auch viel verzeihen?“
Peng. Das schlägt Brücken. Zu den Opfern. Und zu uns.
Denn auch wenn wir es uns mit diesen Schlägern einfach machen können („wir sind ja nicht so schlimm“) – das Prinzip ist immer das Gleiche. Auch bei uns.
Es ist das selbe, mit unseren Geschichten, unseren Narben, unseren dunklen Seiten. Oder bei den Menschen in unserer nächsten Umgebung.
Wenn wir uns in die dunklen Abgründe unserer Seele hinab getrauen (und wer hat schon den Mut wie diese Vier?), werden auch wir Dämonen, Narben und schwarze Löcher finden.
Eine Frage des genauen Hinschauens
Auch bei nervigen, schwierigen Menschen in unserem Umfeld ist die „das musste ja so kommen“-Ebene nur eine Frage des genauen Hinschauens.
Und doch spüren wir: die eigenen Narben machen Untaten nicht entschuldbar. Es ist immer beides da: die „Notwendigkeit“ und die „Freiheit“, etwas zu tun. Oder eben nicht.
Dass etwas so kommen „musste“, dass ich etwas tun „musste“, hilft zum Verstehen. Ja.
Aber es befreit uns nicht von der Verantwortung, anderen damit Schaden zugefügt zu haben.
Ich bin vielleicht Opfer meiner eigenen Erlebnisse. Aber ich bin auch TäterIn.
Der lange Weg der Versöhnung
Und doch: Erst wenn jemand hinter die Worte (oder hinter die Sprachlosigkeit!) hört, erst wenn jemand zuerst urteilslos versteht und Mitgefühl zeigt, wird eine innere Veränderung überhaupt erst möglich.
Erst wenn TäterInnen von innen her verstanden werden, können sie sich selber verstehen und wird es ihnen möglich, ihren inneren Schutz-Panzer aufzubrechen.
Erst dann wird es möglich, den Schritt zu machen, zu sehen, was sie mit ihren Handlungen für Schaden angerichtet haben.
Und erst dann ist es möglich, den Opfern gegenüber Reue zu zeigen. Und offen um Vergebung zu bitten. Und erst dann ist Versöhnung möglich.
Ein langer Weg ist das. Nicht JedeR hat das Glück, solchen Menschen zu begegnen. Und Menschen, welche Anderen mit diesem Verständnis begegnen können, gibts auch nicht wie Sand am Meer.
Glücklich ist, wer…
Deshalb zum Schluss ein paar “Seligpreisungen”:
Glücklich ist, wer einen Menschen findet, der ihm oder ihr mit urteilslosem Verständnis begegnet.
Glücklich ist, wer seine/ihre schlimmen Erlebnisse heilen lassen kann.
Glücklich ist, wer den Mut hat, den langen Weg der Versöhnung zu gehen.
Es lohnt sich. Thierry Moosbrugger
27.1.2012, kja-baselland
Warum der Bundesrat näher beim Rock’n’Roll ist als Sina
Der Bundesrat hat entschieden: Wer Musik gratis downloadet, ist kein Verbrecher. Die Sängerin Sina findet das ein Affront gegen die Musiker. Ein offener Brief zum Thema als Antwort.
“Liebe Sina,
In der Basler Zeitung hast Du Dich gegen das gratis-Downloaden von Songs ausgesprochen. Ich verstehe, dass Du Deine Position vertreten willst – aber man muss doch einige Dinge klarstellen.
Es sind vor allem Jugendliche, welche „ihren iPod voll-laden“. Und Jugendliche machen in vielen Fällen die umständlichsten Werbe-Aktionen mit, nur um an einen Gratis-Download zu kommen.
Dasselbe wie Kassetten
Du bist ja etwa gleich alt wie ich. Weisst Du noch früher, als wir Jugendliche waren? Da haben wir massenweise Platten auf Kassetten aufgenommen haben oder die Hitparade vom Radio.
Das hast Du sicher auch gemacht und bist also nach Deinem eigenen Urteil ein böser Mensch, der die Musik schädigt.
Und jaaaa, ich höre schon den Vorwurf, das könne man nicht vergleichen, das sei überhaupt nicht gleiche, weil… – tja, warum eigentlich? Weil Musik auf Kassetten mindere Qualität hat? Also bitte – die mindere Qualität eines mp3-files zeigt sich spätestens auf der Stereo-Anlage.
Karriere dank unbezahlten Musik-Vorbildern
Aber in Deinem Fall könnte man sogar weiter denken. Weil Du hast ja dank deinen musikalischen AhnInnen Musikkarriere gemacht und Geld verdient.
Man könnte also durchaus sagen, dass Du die musikalischen Ideen für Deine Karriere nur aufgrund von bösem Musik-Diebstahl ergaunert hast.
Von deinen musikalischen Vorbildern, von den Beatles und den Rolling Stones (die haben die gesamte heutige Musik beeinflusst), oder von Bach und Mozart – ja, von denen kommen die ganzen Harmonie-Lehren, auf welche der heutige Pop/Rock fusst.
Sagt Dir jeder Musiklehrer.
Hast Du mal an Paul McCartney oder an Mick Jagger Gebühren bezahlt, dass Du ihre Platten auf Kassetten aufgenommen und gehört hast?
Oder haben Songs von Dir musikalische Anleihen an die Harmonik von Beatles oder Stones?
Alles also geklaut – und damit herzlich willkommen im Club der Urheberrechts-PiratInnen, die man in den Kerker stecken sollte!
Du findest das idiotisch? Da bin ich froh, das finde ich nämlich auch.
Ich habe mich damals sowenig als Verbrecher gefühlt wie ich meinen Sohn als Verbrecher behandle, wenn er YouTube-Clips in mp3 konvertiert und auf seinen cowon D2 lädt.
Der Vergleich mit Film-DVDs
Und Sina, hast Du damals auch Filme auf Videos geschaut?
Weisst Du noch, wieviel die Kauf-Filme auf Video-Kassetten gekostet haben, damals in den 80-ern und 90-ern? Ich weiss es noch: die 79.90 schweizer Franken waren Standard. Dann kam die dvd, mit fast-Kino-Qualität, mit Bedienungs-Mega-Komfort, und mit tonnenweise Bonus-Material.
– Und weisst Du, was das erstaunliche ist? Heute ist der Standard-Preis für Film-DVDs 29.90, beinahe dreimal günstiger als früher!
…was man von den Musik-CDs nicht behaupten kann.
Die kosten immer noch genau gleich viel wie vor 25 Jahren!
Und dies, obwohl auch bei Musik-CDs die Produktionspreise ins Bodenlose stürzten (wie man zb sieht, wenn man als Hobby-Band CDs heute pressen will, im Vergleich zu den 90-ern).
Bekommt Ihr Musiker also massiv mehr Geld als früher? Gell, das ist eine ironische Frage.
Downloads: So teuer wie CDs, aber minderwertig
Du findest die Preise für Downloads billig. Ich nicht!
Wenn ein mp3-Download 1,60 Franken kostet, dann komme ich auf fast den selben Preis wie wenn ich die CD im Laden kaufe – nur habe ich als Download eine minderwertige Musikqualität, kein Booklet, und die CD muss ich auch selber kaufen, wenn ich die Musik brennen will.
Tatsächlich habe lerne ich immer wieder KünstlerInnen via gratis-Download kennen und kaufe dann die CD…
Kompensation Konzert-Ticket
Und dann: Die Mindereinnahmen von CD-Verkäufen werden mit exorbitanten Konzert-Preisen kompensiert.
Die Konzertpreise! Ich mag mich gut an das Open-Air im alten Joggeli erinnern: Chris de Burgh, U2, Tina Turner an einem Tag – für total schlappe 60 Franken!
Herbert Grönemeyer, schon damals ein Abonnent für die Nummmer eins in den Album-Charts, habe ich Anfangs Neunziger auch gesehen in Basel, für 20 Franken. Dieses Jahr zahle ich für Bligg in einem ähnlich grossen Konzertraum das Dreifache – ja, das Dreifache.
Ich zahle das gerne, aber hey, man muss das auch mal sagen:
Was heute Bligg kostet, kostete damals also Chris de Burgh (auf der Höhe seiner Karriere), U2 und Tina Turner zusammen!
Die Industrie beutet Musiker und User aus
Das MusikerInnen gerecht entlöhnt werden sollen, ist ok.
Aber Sina, Du schlägst den Bock und meinst den Gärtner.
Es sind die Plattenfirmen, die sich auf Kosten von MusikerInnen und KonsumentInnen weiterhin auf allerbilligste Tour eine goldene Nase verdienen wollen.
Ohne neue Ideen, unkreativ – einfach in dem man die Jugendlichen disst und sie dafür verurteilt, dass sie ihr Sackgeld den reichen Firmenbossen nicht einfach freudig in den Rachen wirft.
…und natürlich ohne die MusikerInnen von den höheren Gewinnmargen profitieren zu lassen.
Stattdessen: die Industrie und deren Lautsprecher posaunen ihre Verurteilungen mit der moralischen Arroganz in die Welt, mit dem ausgestreckten Zeigefingers eines schlechten Pfarrers aus einem noch schlechteren Film.
Die Dummen sind die Jugendlichen
Nochmals: Dass Du von Deiner Musik leben können möchtest, das respektiere ich. Und ich wünsche Dir faire Verträge für Deine CDs und Deine Konzerte.
Lass Dich doch nicht vor diesen verlogenen Karren spannen, sondern kämpfe für gerechtere Anteile der Musiker an den Unsummen an Gewinn der Firmen.
Richte Deine Kritik also bitte dorthin, wo die Malaise herkommt: An die Industrie, die ihre Margen verfielfacht haben und MusikerInnen wie KundInnen über den Tisch gezogen haben.
Und lass die jugendlichen Musikfans in Ruhe.
Die wollen dasselbe wie Du und ich vor 25 Jahren und wie unsere Eltern vor 50 Jahren: viele tolle Musik hören, so dass sie es sich leisten können.
Der Bundesrat rockt, die Musikindustrie zockt ab
Drum, mit Verlaub: die Haltung des Bundesrates ist näher am Geist des Rock’n’Rolls als Deine, weil sich der Bundesrat gegen die raffgierige (Musik-)Industrie stellt und sich mit dem zahlenden Volk solidarisiert.
Mit vielen Grüssen,
Thierry Moosbrugger”
kja-baselland, 23.3.2012