„Oh mein Gott! Dä MUESCH doch mache!“
Fussball und Religion, das passt besser zusammen als Fuss und Ball. Eben gerade deswegen – Oh My God! Die BZ-Kolummne beginnt mit Thierry Moosbruggers Bekenntnis zu Demut und übertriebenem Torjubel.
König Fussball ist ein Narr. Fuss und Ball, das passt nicht zusammen. Auch in den letzten Wochen nicht: “Dä MUESCH doch mache” – “Retweet: OMG, dä Fliegefänger” – “Dä hätt sogar myni Grossmuetter versänkt!” – Aus fünf Metern springt der Pass ans Knie des Mitspielers, unter den millionenschweren Füssen rollt der Ball ins Aus. Tausende von Trainingsstunden, Milliarden an Investitionen in „Human Resources” – und dann haut Ronaldo den Penalty an den Pfosten, der englische Torwart lässt den isländischen Schuss durch die Hände gleiten, Derdyok vergibt alleine vor dem Tor… – reihenweise Momente von Versagen, Scheitern, Tragik. Der Fussballgott muss ein schadenfreudiges Wesen sein.
Im Gundeli wie im Stade de France
Sind Sie in kürzlich selber auf einem Fussballfeld gestanden? Dann halten Sie den Schlüssel zur globalen Fussball-Faszination zwischen den Zehen: Sie wissen, wie es ist, wenn ein Pass ins Juhee geht, wenn man ein Luftloch schlägt und der Ball an die Hand springt „wo die Hand nichts verloren hat“. Das verbindet die Millionen Fussballer vom Hinterhof im Gundeli über den Dreckplatz in Tirana bis ins glänzende Stade De France, wo morgen wieder Pässe missraten und Chancen vergeben werden.
Revolution gegen die Natur
Im Fussball ist das Scheitern das Normale. Und nach jedem miesen Pass, nach jeder vergebenen Chance gilt: Weitermachen. Von neuem versuchen. Neunzigmal pro Spiel. Und dann: Ein einziger gelungener Spielzug kann zum Delirium führen. „Das Runde muss ins Eckige“ – das tönt einfach und ist doch jedes Mal eine Revolution gegen die Natur des Scheiterns.
Jeder Fussballer weiss das, die Kleinen und vor allem auch die Grossen: Dass Pässe, Freistösse, Direktabnahmen gelingen, ist immer auch Glück.
Wenn sich Spieler vor Betreten des Rasens bekreuzigen oder nach einem Tor dem Himmel danken, dann zeugt das von diesem Wissen: Das Geglückte im Spiel ist immer ein Stück Gnade. Das kann man nicht „verdienen“, das bleibt immer ein bisschen geschenkt. Nur Kleingeister, die vom Fussball wie vom Leben nur wenig Ahnung haben, betrachten das als „Aberglaube“.
Was Gnade ist
Und wie im Fussball läuft es auch im menschlichen Alltag: Pleiten, Pech und Pannen, allüberall. Heute morgen schon wieder im Stau, obwohl ich früh dran war: Wie das zehnte mal im Offside gelandet. Die nicht enden wollende Sitzung: Wie ein zähes Null zu Null. Am Abend Streit mit meiner Frau, wegen einer Kleinigkeit, wie immer: Wie der Fehlpass vor dem eigenen Strafraum, obwohl jeder weiss, dass man dort nicht ins Zentrum spielt.
Fussball lehrt Demut. Und Fussball lehrt, was Gnade ist. Eine einzige glückliche Aktion kann ein ganzes Land in Euphorie stürzen, im Wissen darum, dass Glück flüchtig ist wie ein Flatterball, Gnade unplanbar wie ein Freistoss ins Lattenkreuz. Deshalb sind die Stadionkapellen in Deutschland so begehrt. Weil sie diese Verbindung herstellen.
Haben Sie in ihrem Alltag einen Penalty verschossen? Lernen Sie von Ronaldo, spielen Sie weiter. Und wenn Ihnen heute eine Traumkombination gelingt, gönnen Sie sich ruhig total übertriebenen Jubel. Gott gibt Ihnen keine gelbe Karte deswegen. Er freut sich.
Zahlen vs Boulevard: Auswärtsfans reisen friedlich
Fans, die ihre Vereine an Auswärtsspiele begleiten, sind meist auch am meisten für gute Stimmung besorgt. In letzter Zeit wurden vor allem die Extrazüge als Tatorte ausgemacht. “Fanarbeit Schweiz” wollte es wissen und hat akribisch Buch geführt. Die Zahlen zu „Ereignissen“ in den Extrazügen zu Fussball-Meisterschaftsspielen sind nun publik – praktisch unbemerkt von der Öffentlichkeit.
Neunzig Prozent problemlos
„Fanarbeit Schweiz“ hat in ihrem aktuellen Jahresbericht die Zahlen zu „Ereignissen“ in den Extrazügen zu Fussball-Meisterschaftsspielen erhoben. Die Ergebnisse unter dem Titel „Unterwegs zuhause“ sind beachtenswert. 2014 gab es 228 Fanzüge mit durchschnittlich 400 Fans. 90% davon verliefen gänzlich problemlos (80% der Züge) oder mit „kleinem Sachschaden“ (10%). Kleiner Sachschaden, das ist zum Beispiel ein zerbrochener WC-Spiegel oder eine aus dem Fenster geworfene PET-Flasche – vergleichbar mit „Ereignissen“ anlässlich Zugfahrten von Pfadi- und Jungwachtscharen in ihre Sommerlager; Schabernack, ärgerlich, aber ohne jeden Zusammenhang zur boulevardesk aufgebauschten „Fan-Gewalt“. Erstes Fazit: Neun von zehn Fanfahrten verlaufen friedlich.
Die offizielle SBB-Statistik von 2014 differenziert die „Ereignisse“ nach Vereinen. A propos „Ereignisse“: die SBB scheint dieses Wort zu lieben: ob eine PET-Flasche aus dem Fenster fliegt, ob die Handbremse gezogen wird, oder ob die Polizei Tränengas einsetzt: Alles ist „ein Ereignis“. Diese undifferenzierte Verwendung führt zu hohen „Zahlen“, was ohne genaueres Hinschauen den Mythos der gewaltbereiten Fans unterstützt.
Klassenbester und Sorgenkind
Zurück zu den Zahlen. Die SBB-Auflistung nach Vereinen zeigt, dass der FC Basel in der Super League auch im Bereich Fandisziplin Klassenbester ist, während die beiden Zürcher Clubs nicht nur sportlich zu den Sorgenkindern der Liga gehören. Die lamentable Stadionsituation dürfte auch hier ihren Teil dazu beitragen: Kein Stadion der Schweiz ist so atmosphärefrei wie der Letzigrund; wollen FCZ- und GC-Fans Fussballstimmung erleben, müssen sie Auswärtsspiele besuchen. Es ist nicht verwunderlich, dass sie dann bereits in den Zügen die fehlende Stimmung im eigenen Stadion (über-)kompensieren und immer wieder überborden. Auf der anderen Seite der Tabelle ist neben der Fanarbeit Basel auch die Vereinsführung mit ihrem Engagement in der Prävention und der nimmermüden Diskussionsbereitschaft mitverantwortlich dafür, dass die Basler Auswärtsfans weitestehend problemlose Reisende sind.
Pyros und Böller
„Pyrotechnisches Material“ ist ein weiteres Thema, das im Fokus der Öffentlichkeit steht. Gerade mal bei vier Prozent aller Fahrten wurden Fackeln gezündet, in nur neun von hundert Zügen die Notbremse gezogen (Tendenz sinkend), bei acht von hundert Fahrten gab es Rauchpetarden.
Die Entwicklung der letzten Jahre ist eine Frucht der Bemühungen von „Fanarbeit Schweiz“ und der Fanarbeit der Clubs. Das erfolgreiche „YB-Modell“, bei dem der Verein die Fanzüge quasi „chartert“, wurde zwar noch nicht nachgeahmt, weil die Frage nach der Haftung weiterhin ein Zankapfel zwischen SBB und Clubs bleibt.
Der Erfolg der Schweizer Fanarbeit zeigt sich letztlich auch daran, dass die vertragliche Zusammenarbeit mit der SBB nicht weitergeführt wird. Ganz einfach darum, weil die gemeinsamen Ziele erreicht wurden.
Jahresbericht von Fanarbeit Schweiz: www.fanarbeit.ch
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Kommentar:
Friedliche Fans auf Reisen – nicht interessant für die Öffentlichkeit
Praktisch unbemerkt von der Öffentlichkeit hat „Fanarbeit Schweiz“ Zahlen veröffentlicht, welche allen immer und immer wieder beschworenen Schreckensberichten Hohn spricht. Während der BLICK einen kreativen Sprayer-Scherz der FCZ-Fans gewaltlüstern zum „Krieg der Fankurven“ hochschreibt, nimmt sich kaum jemand die Mühe, die realen Zahlen anzuschauen.
Die Statistiken sprechen wieder eine klare Sprache: neun von zehn Auswärts-Fahrten verlaufen völlig problemlos und bewegen sich im gewohnten Rahmen, wo grosse Gruppen von Jugendlichen unterwegs sind. Was Jeder weiss, der Jugendliche nicht nur aus der Zeitung kennt: „Zunehmende, brutale Jugendgewalt“ ist ein Produkt von Politikern und Politikerinnen und entstammt nicht der Realität.
Klar: Wenn der Captain des FC Zürich im Fernsehen sagt, das Bewerfen von Spielern mit Glasflaschen “gehören zu einem Derby”, dann wähnt man sich im falschen Film. Wenn sein Präsident die Reaktion des Schiedsrichters, die Spieler schützen zu wollen, als “Provokation gegenüber den Fans” bezeichnet (“die Fans haben es gar nicht geschätzt, dass das Spiel unterbrochen wurde”), dann ist das höchst problematisch. Und Jagdszenen wie auf dem Bahnhof Pratteln oder als Waffen benutzte Böller wie im vergangenen Frühling sind alles andere als harmlos. Das ist hässlich und muss mit aller Härte und Konsequenz bestraft werden.
Beim Weg zu mehr Vernunft ist der FC Basel dem Rest der Schweiz auch hier eine Nasenlänge voraus: Ohne auf Repression zu verzichten, investiert die Vereinsführung in Prävention und Diskussion mit den Fans.
Was in jedem Schulzimmer bekannt ist, gilt auch in den jeweils „grössten Jugendzentren“ der Fussballstädte, was die Fankurven ja sind: Verunglimpfung, Kollektivstrafen und mediale Aufbauschung vergrössern das Problem, statt es zu lösen.
Vielleicht vermöbeln wild gewordene Fans bei nächster Gelegenheit wieder einen Zug – und werden hoffentlich zur Rechenschaft gezogen. Doch auch dann wissen wir: Es bleibt eine Ausnahme in einer weitestgehend harmlosen Freizeitbeschäftigung, was Fussballspiele in der Schweiz nämlich sind. Jedes andere Urteil ist nicht seriös.