Die Junteressli nahmen sich ein grosses Thema vor: das Higgs-Teilchen und die Religionen. Wie bringen sie das auf die Fasnachts-Strassen? Was spielt bei so einem Ansinnen alles mit? Was liegt für uns als Kirche darin für Potenzial?…und das alles ist fast so komplex wie ein Teilchenbeschleuniger im CERN…
40 Sekunden
40 Sekunden hat mensch Zeit, um die Aussage einer Clique zu begreifen, wenn sie am Cortège vorbeizieht.
Als interessierter Zuschauer erlebte ich die 40 Sekunden so: Zuerst kommen katholische Mönche (Franziskaner, der braunen Kutte nach) und verteilen aus Bibeln heraus den “Zeedel”.
Ein Blick auf das Sujet muss reichen, zum Lesen habe ich jetzt natürlich keine Zeit. Denn schon bannt mich die Laterne: In leuchtenden Farben werden da ein Mann und eine Frau aus einem Zentrum geschleudert – das muss wohl der Urknall sein. Eine Prachtslaterne! Hintendrauf: Ein überdimensionaler Jesus, der seine Hände schützend über Kirchenleute hält – was das wohl bedeuten mag?
Schon kommen die Pfeifer – aber was stellen sie denn dar? In griechischen Togen gewandet, mit einer diagonalen blauen Schärpe, jede Figur träg ein Transparent mit “Entschuldigung!” drauf. Es müssen Priester sein, schliesse ich. Der Tambourmajor ist unverkennbar Papst Benedikt, und dann nochmals diese merkwürdigen griechischen Priester – und schon ist der Zug vorbei, gefolgt von einer schränzenden Guggenmusik.
Zurück bleiben erst mal viele Fragezeichen. Was war das?
Der Fasnachts(falsch)führer
Ok, denke ich. Es gibt ja noch den Zeedel und den Fasnachtsführer “Rädäbäng”, in dem jede Clique ihr Sujet beschreibt. Ich starte mit dem Rädäbäng. Die Laternenhinterseite stelle den dar, den es “gar nicht geben kann”. Das Spiel sei der, der hineingeleimt worden sei, der Tambourmajor Märlitante Benedictine. – ??? – Noch mehr Fragen…. – Jesus soll es nach dem Higgs-Teil nicht mehr gegeben haben? Also der Major war nun sicher keine Frau. Und offen bleibt für mich: wer entschuldigt sich hier für was?
Der quälende “Schwarz-Zeedel”
Nächste Info-Quelle: der Zeedel. Da spricht Jesus (“My Vadder het die Wält nit gschaffe”), dass die Bibel nicht entstanden wäre, hätte mensch das Higgs-Teilchen damals schon gefunden. Jesus zählt in quälender Länge das gesamte historische Sündenregister der Kirche auf (er verwechselt dabei schon mal Nero mit Herodes) und wirft ihr vor, die Menschen “2000 Joor lang yyneglyymt” (belogen) zu haben – aha! Pfeifer und Tambouren müssen also für die Kirche stehen, also eben Priester. Jesus schliesst den Zeedel damit, dass man besser wissen als glauben solle: dies mache die Welt zum Paradies.
Leer schlucken
Als Theologe und “gerne-Katholik” muss ich ein paar mal leer schlucken, um auf die zahllosen einzelnen Widersprüche und Unkorrektheiten nicht sofort empört zu antworten.
Im Ganzen macht mich das ratlos: Das Higgs-Teilchen, das alle Religionen betrifft, wird also eindimensional auf Katholiken- bzw Papst-Bashing reduziert. Dass der Vatikan auf diese Entdeckung im Herbst sehr entspannt und offen reagiert hat, scheint überhaupt keine Rolle zu spielen.
Das ist hartes Brot, wenn ich den Zug wirklich ernst nehmen will.
…aber… muss an der Fasnacht alles ernst gemeint sein? Oder geht es vielleicht gar nicht um die wirklichen Inhalte?
Her Obfraus Voice
Ich möchte mehr wissen. Also führe ich ein längeres Gespräch mit der Obfrau der Junteressli, Edith Thalmann.
“Ich bin katholisch, ich zahle meine Kirchensteuern, und ich finde toll, was in meiner Pfarrei geschieht.”, beginnt sie, und es tönt für mich wie eine Entschuldigung. Das interessiert mich aber primär gar nicht. Ich frage sie, was sie mit dem Sujet aussagen wollten, und wie es dazu kam.
Die Sujets der Junteressli seien oft komplex und werden vom Publikum nicht immer verstanden, sagt Thalmann. Die Kernaussage dieses mal: “Mit dem Higgs-Teil ist offenbar bewiesen, dass Gott die Welt nicht erschaffen haben kann. Damit verlieren die religiösen Ideologien an Substanz. Nun könnten die Religionen doch die alten Auseinandersetzungen hinter sich lassen und die Menschheit in Frieden leben.” – “Hurra!” eben.
Die Junteressli haben eine gewählte Sujet-Kommission, welche Mitte Oktober das Sujet vorstellten. Nicht alle seien begeistert gewesen, vor allem weil das Spiel ” 50 mal Jesus” darstellen sollte, was für viele zu wenig Bezug zum Sujet hatte – zudem sei Jesus einmalig. Einzelne haben das Sujet dann zum Anlass genommen, eine angedachte Fasnachtspause “einzuziehen”. Die Clique hat die Kommission nach der Präsentation nochmals in Klausur geschickt, um die Umsetzung mit den “50 Jesussen” zu überdenken, aber die Sujet-Kommission blieb bei ihrem Entscheid, weil der Zug als Ganzes so imposanter wirke.
Obwohl das Higgs-Teilchen alle Religionen betrifft, hätten die Junteressli darauf verzichet , andere Religionen einzubeziehen, sondern sich ausschliesslich auf “die eigene Religion” konzentriert.
Sie erzählt, wie der Tambourmajor seine Papst-Figur genossen habe. Und dass sie in ihrer Ansprache am Sonntag vor der Fasnacht auf die enge Verbindung von Fasnacht und Religion hinwies. Ohne Kirche kein Ostern, ohne Ostern keine Fastenzeit, ohne Fastenzeit keine Fasnacht.
Was alles auch zur Fasnacht gehört
Im langen Gespräch gehen mir verschiedene andere Ebenen auf, die an der Fasnacht eine Rolle spielen und die sich oft vermischen wie die Räppli auf der Strasse:
– Es gibt ein “Fasnachts-Grundrecht”, “die da oben” auch mal indifferenziert zu beschimpfen.
– Für viele FasnächtlerInnen ist das Musizieren an der Fasnacht und das Schwelgen in Farben und Tönen mindestens ebenso wichtig wie das Sujet-Thema.
– Zum Verkleiden an der Fasnacht gehört es, etwas darzustellen, das mensch im normalen Leben nicht ist. Ob nun ein Papst thematisch passt oder nicht, es ist toll, an der Fasnacht mal Papst sein zu dürfen (und das zählt auch für Affen-, Prinzessinnen- und Teufelkostüme). Ein Papst als Major scheint attraktiver als ein Higgs-Teilchen – sicher ist es einfacher umzusetzen…
– Die persönliche Auseinandersetzung mit einem Sujet ist manchmal wichtiger als das Resultat, das detaillierte Basteln wichtiger als wie es dann aussieht.
– In einer Clique weiss die rechte Hand nicht immer, was die linke tut, sondern mensch ist froh, wenn es überhaupt tätige Hände gibt. So gibts dann halt auch mal Teile, die sich gegenseitig widersprechen.
Dies alles bringt mich dazu, das zu tun, was die Junteressli auch tun: das Ganze nicht tierisch ernst zu nehmen.
Und dann kehre ich wieder zum Ursprung zurück. Was bedeuten die Bilder, welche die Junteressli dem Zuschauer präsentieren, für uns als (katholische) Kirche?
Die Macht der Bilder
Und hier sind wir wieder beim Erscheinungsbild. Was sagen uns als Kirche die Bilder, die in 40 Sekunden an uns vorbeiziehen?
Wir sind “die” Religion
Aufs Trefflichste spiegelt der Junteressli-Zug die verquere Gleichung: Religion = Katholisch = Papst. Sobald von “Religion und Kirche” die Rede ist, bietet sich als Bild am einfachsten die Katholische Kirche an. Darin liegt Segen und Fluch.
Einerseits ist es der katholischen Kirche gelungen, ein “Corporate Design” zu schaffen, das die Menschen sofort verstehen und erkennen. Aber es verleitet (im Guten wie im Schlechten, von innen und aussen) immer wieder dazu, daraus abzuleiten, dass eben nur die katholische Kirche “wirklich” Kirche ist. …sowie es immer mal wieder mal Reformierte gibt, die ihren Kirchen-Austritt mit dem Papst begründen.
“Motzen” als fasnächtliches Grundrecht
Es gehört zur Fasnacht, “die da oben” einfach mal laut heraus zu kritisieren – und die Kirche wird offenbar weiterhin als “die da oben” wahrgenommen, auch wenn immer wieder behauptet wird, die Kirche habe keine Bedeutung mehr. Differenzieren, das kommt dann nachher wieder, jetzt gehts einfach mal ums “ausrufen”. Und nur wer keine Bedeutung mehr hat, erntet keinen fasnächtlichen Spott und keine Schadenfreude.
Einmal Papst sein…
Die kirchlichen Figuren (Papst, Nonne, Priester, Jesus) bleiben als Kostümierungen attraktiv und bilden weiterhin verborgene Sehnsüchte ab, welche man an der Fasnacht gefahrlos ausleben kann.
Wunsch nach Schuld-Anerkennung
Das Spiel der Junteressli bildet mit den zahllosen Schildern ganz offensichtlich das Bedürfnis ab, dass die Kirche sich für ihre Fehler entschuldigen möge und sich nicht hinter historischen, theologischen oder anderen “Begründungen” versteckt. Dieses Anliegen ist sehr verständlich, und eine Grundbedingung für eine gelingende Beziehung – weil Fehler zum Mensch-Sein gehören und Versöhnung deshalb auch. Und das Bedürfnis nach einer Entschuldigung für Missetaten zeigt ja auch den Wunsch nach einer (wiederhergestellten) Beziehung zur Kirche. Wer mir egal ist, von dem wünsche ich mir auch keine Entschuldigung.
Die Fähigkeit, eigene Grenzen und Schwächen zu erkennen, einzugestehen und damit “einzubringen”, ist ja eine eigentliche Stärke und nur oberflächlich gesehen ein drohender Machtverlust. Da hat die Kirche definitiv noch Lernbedarf (…und dass ManagerInnen und PolitikerInnen keinen Deut besser sind, darf da nicht als Trost dienen).
Zuletzt: Spieglein, Spieglein an der Wand…
Der Junteressli-Zug zeigt uns die grosse Macht der jahrhundertealten Bilder, welche die Kirche geprägt hat. Sie sind so stark, dass sie viele konkrete Inhalte überformen, ja verzerren.
Das zeigt für mich: wenn wir neue Inhalte wollen, dann braucht es starke Bilder dazu, welche die Menschen mit dem Bauch verstehen. Hier muss die Kirche vertieft arbeiten.
Alte Kirchenmacht darstellen, das haben wir gesehen, das funktioniert einfach und gut.
Und was für Bilder finden wir für eine Kirche, welche zu den Menschen hingeht und sie dort abholt, wo sie leben und wie sie glauben?
Spannende Frage…